Wednesday, April 02, 2008

Die Dialektik der Säkularisierung

Von Jürgen Habermas
Der Bischof von Canterbury empfiehlt dem britischen Gesetzgeber, für die einheimischen Muslime Teile des Familienrechts der Scharia zu übernehmen; Präsident Sarkozy schickt 4000 zusätzliche Polizisten in die berüchtigten, von Krawallen algerischer Jugendlicher heimgesuchten Banlieues von Paris; ein Brand in Ludwigshafen, bei dem neun Türken, darunter vier Kinder, umkommen, weckt in den türkischen Medien trotz der ungeklärten Brandursache tiefen Argwohn und wüste Empörung; das veranlasst den türkischen Ministerpräsidenten bei seiner Visite in Deutschland zu einem Besuch der Brandstelle, wobei sein anschließender wenig hilfreicher Auftritt in Köln1 wiederum in der deutschen Presse ein schrilles Echo auslöst. Alle diese Nachrichten stammen von nur einem Wochenende dieses Jahres. Sie dokumentieren, wie sehr der Zusammenhalt innerhalb vermeintlich säkularer Gesellschaften gefährdet ist – und wie drängend sich die Frage stellt, ob und in welchem Sinne wir es inzwischen mit einer postsäkularen Gesellschaft zu tun haben.

Um von einer „postsäkularen“ Gesellschaft sprechen zu können, muss diese sich zuvor in einem „säkularen“ Zustand befunden haben. Der umstrittene Ausdruck kann sich also nur auf die europäischen Wohlstandsgesellschaften oder auf Länder wie Kanada, Australien und Neuseeland beziehen, wo sich die religiösen Bindungen der Bürger kontinuierlich, seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sogar drastisch gelockert haben. In diesen Regionen hatte sich das Bewusstsein, in einer säkularisierten Gesellschaft zu leben, mehr oder weniger allgemein verbreitet. Gemessen an den üblichen religionssoziologischen Indikatoren haben sich die religiösen Verhaltensweisen und Überzeugungen der einheimischen Bevölkerungen inzwischen keineswegs so verändert, dass sich daraus eine Beschreibung dieser Gesellschaften als „postsäkular“ rechtfertigen ließe. Bei uns können auch die Trends zur Entkirchlichung und zu neuen spirituellen Formen der Religiösität die greifbaren Einbußen der großen Religionsgemeinschaften nicht kompensieren.2

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