Wednesday, December 01, 2004

Ein letzter Gruß

Ein letzter Gruß
Derridas klärende Wirkung
VON JÜRGEN HABERMAS

Jacques Derrida hat, wie nur noch Michel Foucault, den Geist einer ganzen Generation in Bewegung gesetzt. Er hält diese Generation bis heute in Atem. Aber anders als Foucault, obwohl ein politischer Denker wie dieser, hat Derrida die Impulse seiner Schüler in die Bahnen eines Exerzitiums gelenkt. Primär geht es ihm nicht um den Inhalt einer Lehre, nicht einmal um die Einübung in ein Vokabular, das einen neuen Blick auf die Welt erschließt. Darum geht es auch. Aber die Einübung in das mikrologische Lesen und das Auffinden von Spuren in Texten, die der Zeit stand gehalten haben, ist Selbstzweck. Wie Adornos Negative Dialektik, so ist auch Derridas Dekonstruktion wesentlich eine Praxis. Viele wussten von der schweren Krankheit, mit der Derrida souverän umging. Der Tod kam nicht unerwartet. Aber nun trifft er uns doch als ein plötzliches, ein voreiliges Ereignis - es reißt uns aus der Gewohnheit und dem Gleichmut des Alltags heraus. Gewiss wird der Denker, der seine ganze intellektuelle Energie an die inständige Lektüre großer Texte verausgabt und der den Vorrang der überlieferungsfähigen Schrift vor der Präsenz des gesprochenen Wortes gefeiert hat, in seinen eigenen Texten weiterleben. Aber jetzt wissen wir, dass uns Derridas Stimme und Derridas Gegenwart fehlen werden.

Seinen Lesern begegnet Derrida als ein Autor, der jeden Text solange gegen den Strich liest, bis er einen subversiven Sinn preisgibt. Unter seinem unnachgiebigem Blick zerfällt jeder Zusammenhang in Fragmente. Jeder vermeintlich feste Boden gerät ins Schwanken, verrät einen doppelten Boden. Die gewohnten Hierarchien, Ordnungen und Oppositionen eröffnen uns einen gegenläufigen Sinn. Die Welt, in der wir zuhause zu sein scheinen, ist unbewohnbar. Nicht von dieser Welt, bleiben wir Fremde unter Fremden. Zuletzt war die religiöse Botschaft kaum noch chiffriert.

Selten gibt es Texte, die den anonymen Lesern auch das Gesicht ihres Autors so deutlich zu enthüllen scheinen. Tatsächlich gehört Derrida aber zu den Autoren, die ihre Leser bei der ersten persönlichen Begegnung überraschen. Er war anders, als man erwartete - eine ungemein liebenswürdige, fast elegante, gewiss verletzbare und sensible, aber gewandte und, sobald er Vertrauen gefasst hatte, sympathisch offene, eine freundliche und zur Freundschaft bereite Person. Ich bin froh, dass Derrida wieder Vertrauen gefasst hat, als wir uns hier in der Nähe Chicagos, in Evanston, von wo aus ich ihm diesen letzten Gruß zuschicke, vor sechs Jahren wiedersahen.

Derrida ist Adorno nie begegnet. Aber bei der Verleihung des Adorno-Preises hat er in der Paulskirche eine Rede gehalten, die im Gestus des Denkens, bis in die geheimen Falten der romantischen Traummotive, Adornos eigenem Geist nicht hätte verwandter sein können. Die jüdischen Wurzeln sind das verbindende Element ihres Denkens. Gershom Scholem blieb für Adorno eine Herausforderung, Emmanuel Levinas ist für Derrida zu einem Lehrer geworden. Derridas Werk kann in Deutschland auch deshalb eine klärende Wirkung entfalten, weil es sich den späten Heidegger aneignet, ohne an den mosaischen Anfängen neuheidnisch Verrat zu üben.

Jürgen Habermas ist em. Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt/M. und lehrt Philosophie an der Northwestern University in Evanston bei Chicago.

Ein letzter Gruß Derridas klärende Wirkung VON JÜRGEN HABERMAS

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