Der Philosoph Jürgen Habermas hat auf Einladung des Warschauer Goethe-Instituts Polen besucht und in öffentlichen Diskussionen seine Sicht der Lage in Europa verteidigt. Mit Jürgen Habermas sprach der polnische Publizist Adam Krzeminski.
Die Welt: 2003 haben Sie zusammen mit Jacques Derrida ein Manifest des europäischen Selbstverständnisses geschrieben. Ein kantianisch friedfertiges Europa solle ein Korrektiv sein zu den "martialischen" USA. Die Realität heute ist verwickelter. Die Amerikaner haben Saddam gestürzt und zwei Jahre später Wahlen im Irak durchgesetzt.
Jürgen Habermas: Nach meiner Beobachtung haben die zweifelhaften Folgen der völkerrechtswidrigen Invasion in den Irak auch die einstigen Kriegsbefürworter nachdenklich gemacht. Natürlich hoffe ich mit Ihnen darauf, daß sich dort wenigstens ein halbwegs liberales Regime durchsetzen wird. Aber eine möglicherweise eintretende positive Folge kann doch nicht ausreichen, um die Kantsche Testfrage zu bejahen: Ob wir unter gleichen Umständen, also ohne Evidenzen für eine unmittelbar bevorstehende Gefahr, wieder so handeln - und dabei die Verantwortung für Zehntausende von Opfern übernehmen - sollten. Wenn man schon das Völkerrecht beiseite schiebt, sollten wir als Intellektuelle wenigstens moralische Skrupel haben und fragen, ob sich der Fall Irak verallgemeinern läßt. Warum Irak, wenn nicht Usbekistan - ein Land, das die USA stattdessen dankbar in die Koalition der Willigen aufgenommen haben?
Unter den EU-Mitgliedern gab es aus guten normativen Gründen kein einziges Land, in dem eine Mehrheit der Bevölkerung diesen Krieg in irgendeiner Phase unterstützt hätte - auch in Polen nicht. Und warum sollten sich Demokraten nicht von der Tatsache beeindrucken lassen, daß in London und Rom, Madrid und Barcelona, Paris und Berlin Proteste in einer Größenordnung stattgefunden haben, die die größten jemals seit 1945 beobachteten Demonstrationen um ein Mehrfaches in den Schatten gestellt haben? Heute ist das Zerwürfnis, das zwischen den Regierungen, nicht zwischen den Völkern Europas bestanden hat, abgeklungen; es hat aber in ganz Europa eine Katerstimmung hinterlassen.
Die Welt: Die "Alteuropäer" dagegen wollen China Demokratie bescheinigen, um Waffen verkaufen zu können und sehen in Putin einen "lupenreinen Demokraten". Ist dieses angeblich so friedfertige "alte Europa" nicht verlogen?
Habermas: Ich stimme Ihnen in der Kritik an dem wirtschaftsopportunistischen Verhalten der Berliner Regierung gegenüber Rußland und China vorbehaltlos zu. Diese normativ rückgratlose Politik wird in der deutschen, gerade in der linksliberalen Öffentlichkeit ebenso entschieden kritisiert wie in Polen. Für Europa ist es gut, wenn sich die öffentliche Meinung in allen Mitgliedstaaten gleichzeitig an denselben Themen in ähnlicher Weise polarisiert.
Die Welt: Die EU scheint heute keinen Aufwind zu haben. Ist ein europäischer Verfassungspatriotismus überhaupt möglich?
Habermas: Europa ist heute in einem miserablen Zustand. Die Tatsache, daß Rumsfeld Europa gleichsam über Nacht in ein "altes" und ein "neues" Europa spalten konnte, hat uns zu Bewußtsein gebracht, wie sehr wir alle die politische Gegenwart aus der beschränkten und manchmal verzerrenden Perspektive unserer jeweils eigenen Erfahrungen und nationalgeschichtlichen Traumata wahrnehmen. Soziale Egoismen lassen sich nach den üblichen Verfahren der Kompromißbildung bearbeiten, nationale Mythen nicht. Diese bilden ein trügerisches Sicherheitsnetz, in das wir uns nur zu leicht fallen lassen, wenn wir vor etwas Angst bekommen und das Gleichgewicht verlieren. Ich will damit sagen, daß es in Europa nicht um diese oder jene Art von Patriotismus geht, sondern um das elementare Vertrauen darauf, daß uns die jeweils anderen im Konfliktfall nicht über den Tisch ziehen. Dieses Grundvertrauen fehlt, solange wir uns noch nicht als Mitglieder desselben Gemeinwesens verstehen. Für die einen ist die Nato vertrauenswürdiger als die EU, für die anderen setzt der europäische Wohlfahrtsstaat einen vertrauenswürdigeren Maßstab als der hegemoniale Liberalismus, der freie Märkte und freie Wahlen notfalls mit militärischer Gewalt durchsetzt.
Die Welt: Der heftige Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen zeigt, daß der Wettlauf der nationalen Leiden in Europa weiterhin im Gange ist, und die Europäer Schwierigkeiten haben, gemeinsame Geschichtserzählungen zu (er)finden. Der Holocaust jedenfalls scheint dabei als Gründungsmythos des vereinten Europa nicht auszureichen.
Habermas: Der Bezugspunkt des Historikerstreites war die eigene Nation, das eigene nationale Selbstverständnis. Der Holocaust ist nach wie vor konstitutiv für das Selbstverständnis der Bürger der Bundesrepublik. Gewiß, seit der Wiedervereinigung mit der DDR, die noch einmal ein Stück Spätstalinismus ins ohnehin schwer belastete nationale Erbe eingebracht hat, sind wir mit einer "doppelten Vergangenheit" konfrontiert. Das hat an der gemeinsamen Haftung der Deutschen für den Holocaust nichts geändert.
Während wir uns aus der Täterrolle nicht herausstehlen können, liegen die Dinge in Polen offensichtlich ganz anders; Sie sind in erster Linie die Opfer von Hitler und Stalin geworden. Und für das politische Selbstverständnis der Polen mag der Stalinismus im Verhältnis zum Faschismus ein anderes Gewicht haben. Jede Nation muß zunächst einmal mit der eigenen Geschichte ins Reine kommen, und das heißt auch mit ihrem Verhältnis zu den Nationen, denen sie Leid und Unrecht zugefügt hat - ganz zu schweigen von den Menschheitsverbrechen, die die Deutschen an Polen und auf polnischem Boden verübt haben. Ein europäisches Geschichtsverständnis kann sich nur in einem weiteren Schritt, und zwar aus einer wechselseitigen Perspektivenübernahme herausbilden. In diesem europäischen Horizont müssen dann die Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen in ihrem komplexen Zusammenhang, muß der Völkermord an den Armeniern, muß auch der Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung in den deutschen Städten, müssen alle historischen Tatbestände aufgearbeitet werden, für die heute der internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig ist. Nur so kann vielleicht die schwache Kraft der Erinnerung noch eine heilende Wirkung entfalten und zu Versöhnung und Vertrauensbildung unter den Nachgeborenen beitragen.
Die Welt: 2001 haben Sie in der Paulskirche die Aufklärung mit dem religiösen Denken zu versöhnen versucht. Dann diskutierten Sie mit Kardinal Ratzinger. Wie christlich ist Europa? Und stellt sich die Frage, wer europäischer ist, die Türkei oder die Ukraine?
Habermas: Die Katholische Kirche hat seit dem Zweiten Vatikanum mit dem "Liberalismus", d.h. mit Rechtsstaat und Demokratie, ihren Frieden gemacht. Deshalb gab es in der Frage der "vorpolitischen Grundlagen der Demokratie" zwischen dem damaligen Kardinal Ratzinger und mir keine großen Differenzen. Die Gemeinsamkeiten erstrecken sich auch auf bestimmte bioethische Fragen, die sich heute aus Fortschritten in Medizin, Gentechnik oder Hirnforschung ergeben. Mein Freund Johann Baptist Metz, der auf meinen Wunsch an jener Diskussion teilgenommen hat, war nachher über den milden Tenor der Auseinandersetzung etwas irritiert. Aber in den theologischen und kirchenpolitischen Streit wollte ich mich als Nicht-Katholik nicht einmischen.
Das heißt ja nicht, daß keine Meinungsgegensätze mehr bestehen. Ich sehe beispielsweise die möglichen Beitritte der Türkei und der Ukraine zur EU nicht als eine Alternative. Die unbestrittene Tatsache, daß die europäische Kultur tief im Christentum verwurzelt ist, kann das politische Gemeinwesen der europäischen Bürger nicht allein auf christliche Wertgrundlagen verpflichten. Die Europäische Union ist so wie auch jeder einzelne ihrer Mitgliedstaaten zur weltanschaulichen Neutralität gegenüber den rasch wachsenden Zahlen der säkularen und der nicht-christlichen Bürger verpflichtet. Das sollte man aber nicht zu einer säkularistischen Weltanschauung aufbauschen. Aus dem Gebot der Unparteilichkeit gegenüber allen Religionsgemeinschaften und allen Weltanschauungen ergibt sich noch nicht zwingend eine laizistische Kirchenpolitik, die heute selbst in Frankreich kritisiert wird.
Ich glaube, daß der liberale Staat schon aus eigenem Interesse behutsam mit allen Ressourcen umgehen sollte, aus denen sich die moralische Sensibilität seiner Bürger speist. Diese Ressourcen drohen um so eher auszutrocknen, je mehr die Lebenswelt ökonomischen Imperativen unterworfen wird. Nach neoliberalem Dogma zieht sich heute die Politik aus lebenswichtigen Bereichen wie Bildung, Energie, öffentlichem Verkehr und Kultur, auch aus der Vorsorge für die Standardrisiken des Arbeitsleben, immer weiter zurück und überläßt die sogenannten Modernisierungsverlierer sich selbst. Wenn wir den Kapitalismus nicht zähmen, fördert er eine ausgelaugte, eine entleerende Modernisierung. Angesichts dieser Tendenz zum Verdorren aller normativen Sensibilitäten verändert sich auch die politische Konstellation zwischen Aufklärung und Religion. Als ein säkularer Bürger sage ich, daß sich Glauben und Wissen selbstreflexiv der jeweils eigenen Grenzen vergewissern müssen.
Die Welt: Welche Bedeutung kann die Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst für Europa und für Deutschland haben?
Habermas: Ich freue mich über die Geste, daß der Papst als erstes Land Polen besuchen will. Die persönliche Nähe zu seinem Vorgänger wird natürlich auch in Deutschland wahrgenommen. Andersgläubige oder säkulare Bürger müssen nicht unbedingt so kühl auf den neuen Papst reagieren wie Timothy Garton Ash. Es mag ja der Fall eintreten, daß die Entchristianisierung Europas im gleichen Rhythmus weiter fortschreitet, wie es - mit der einzigen Ausnahme Polens und Irlands - die Statistiken der letzten 60 Jahre belegen. Aber dafür gibt es konventionelle soziologische Erklärungen. An dem neuen Papst würde es mit Sicherheit nicht liegen. Im übrigen scheint die symbolische Bezugnahme auf Benedikt von Nursia, die mit der Wahl des Namens Benedikt XVI. verbunden ist, ein Hinweis darauf zu sein, daß dieser Papst selbst mit einer solchen Möglichkeit rechnet und die Kirche für eine Situation wetterfest machen will, in der die Christen zu einer Minderheit schrumpfen.
Der Philosoph Jürgen Habermas über rückgratlose Politik in Deutschland, die heilende Kraft der Erinnerung und den neuen Papst
Artikel erschienen am Mi, 4. Mai 2005
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