Ein mehrdimensionaler Gerechtigkeitsbegriff ist unverzichtbar
Für den Philosophen Axel Honneth haben allein die Grünen die intellektuellen Ressourcen, um den gegenwärtigen Strukturwandel der Politik zu begreifen
Axel Honneth (FR)
Frankfurter Rundschau: Herr Honneth, Sie haben vor drei Jahren mit einer Art philosophischen Beratung versucht, den Grünen auf die Sprünge zu helfen. Inzwischen deutet einiges auf ein baldiges Ende der rot-grünen Koalition hin. Ist das rot-grüne Projekt gescheitert und wenn ja, woran?
Axel Honneth : Von einem Scheitern der Regierungskoalition lässt sich wohl kaum sprechen, weil das ein klares, wohldefiniertes Aktionsprogramm voraussetzen würde, dessen Durchsetzung misslungen oder fehlgeschlagen wäre - davon aber kann keine Rede sein. Zwar hatte der kleinere Koalitionspartner zu Beginn der Regierungszeit eine Reihe von äußerst sinnvollen, überfälligen Reformprojekten ins Auge gefasst, vor allem im Bereich der Bürgerrechte und der ökologischen Wachstumsbeschränkung, von denen im Laufe der Jahre dann Gott sei Dank einige auch umgesetzt werden konnten; insgesamt aber geriet die Regierungspolitik schnell unter den Druck einer ständigen, geradezu atemlosen Anpassung an die vorher unterschätzten Herausforderungen der wirtschaftlichen Globalisierung und des demographischen Strukturwandels, so dass weder das Potenzial noch die Zeit für eine aktivere Gestaltung blieb. Tatsächlich ist es der Regierungskoalition nie gelungen, den Verdacht der stets bloß nachholenden Strukturanpassung loszuwerden, immer standen beide Parteien als Verräter ihrer ehemaligen Ideale und Visionen da.
Ist denn vom intellektuellen, kulturellen Profil etwas geblieben?
Immerhin hat diese Handlungsblockade bei den Grünen doch wohl die gedankliche Flexibilität, die parteiinternen Spannungen und die politische Umsicht so anwachsen lassen, dass dort heute die intellektuellen Ressourcen gegeben sein dürften, um ein tragfähiges Programm für einen sozialpolitischen Strukturwandel mit zivilem Antlitz zu erarbeiten - denn darauf wird es ankommen, die Sozial- und Sicherungsssysteme so umzugestalten, dass die gewachsenen Anforderungen an individuelle Leistungen und Mobilitäten mit unseren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, der Garantie von individueller Autonomie und sozialer Inklusion für alle, vereinbar bleiben.
Eine der Kernfragen des Wahlkampfes ist die scheinbare Übermacht der Wirtschaft und die Möglichkeiten ihrer politischen Regulierung. Steht die Politik insgesamt vor einem fundamentalen Strukturwandel?
Nicht, was die Aufgaben, aber wohl doch was ihren Organisationsmodus, ihre institutionelle Existenz anbelangt. Die zentrale Aufgabe der Politik in den nächsten Jahren wird wohl die bleiben, die durch die Globalisierung ermöglichte Enthemmung der kapitalistischen Akkumulation durch die Regulierung zentraler Märkte einzudämmen, so dass die Bürger und Bürgerinnen ein Leben in Anstand und Würde ohne ständige Drohung von Kündigung, Verelendung und Abstieg führen können. Aber das ist wohl nur durch eine stärkere Internationalisierung der Politik möglich, zumindest eine Europäisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Ist unsere Politik denn auf solch einen Orientierungsrahmen ausgerichtet?
Darauf ist keine unserer Parteien wirklich eingestellt, ja, die ganze Politik, die Existenzweise politischen Handelns, ist noch immer vollständig in nationalen Grenzen eingehegt. Das beginnt mit der Keimzelle unseres politischen Systems, den politischen Parteien, die von unten bis oben personell und thematisch rein national orientiert sind, setzt sich in den Parlamenten fort, deren Debatten kaum einen Blick über die Grenzen hinweg unternehmen, und endet schließlich in der politischen Öffentlichkeit, deren Medien und Zirkel ebenfalls ausschließlich auf national definierte Themen gerichtet sind. Es bedürfte einer Revolutionierung dieser politischen Aktionszentren, eines Strukturwandels der Politik durch die personelle und thematische Transzendierung nationaler Grenzen, um die Herausforderungen der nächsten Jahre tatsächlich meistern zu können. Die Aktionszentren politischen Handelns müssen den Schritt zur transnationalen Organisationsform nachvollziehen, den die Wirtschaft längst vollzogen hat, um ihr durch vernünftige Grenzziehungen Einhalt gebieten zu können. Nur ganz wenige Gestalten unseres politischen Lebens haben diesen notwendigen Schritt zur Entnationalisierung der Politik bereits vollzogen, an oberster Stelle vielleicht Cohn-Bendit, den seine Lebensgeschichte darauf vorbereitet hat.
Im aktuellen Wahlkampf geht es viel um das Gesundheitssystem, Steuer- und Arbeitsmarkt-Fragen. Dennoch hat man den Eindruck, als komme die soziale Frage zu kurz. Kann die Politik der sozialen Gerechtigkeit noch Rechnung tragen?
Die soziale Frage
Die Reform des Gesundheits-, Steuer- und Arbeitsmarktsystems zieht so viele Kontroversen auf sich, weil die Parteien für die ihr zu Grunde liegende soziale Frage kein Konzept besitzen. Nach Sighard Neckel (6.9.) und Susan Neiman (10.9.) äußert sich heute Axel Honneth.
Axel Honneth ist Professor für Philosophie an der Frankfurter Goethe-Universität und Direktor des Instituts für Sozialforschung. Bei Suhrkamp erscheint diesen Herbst seine neue Studie "Verdinglichung". FR
Hier habe ich eine ganz andere Wahrnehmung - alle diese scheinbar technischen Fragen, um die der Wahlkampf sich primär zu drehen scheint, die nach der notwendigen Reform unseres Gesundheits-, Steuer- und Arbeitsmarktsystems, sind deswegen so schwer lösbar, ziehen deswegen so viele Kontroversen auf sich, weil sie schon im Ansatz mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit unmittelbar verzahnt sind. Wahrscheinlich war kein Wahlkampf in den letzten 20 Jahren untergründig so sehr von der sozialen Frage beherrscht wie der jetzt gerade zu Ende gehende. Das Problem ist nur, dass keine der Parteien schon ein Konzept von sozialer Gerechtigkeit besitzt, das komplex, vielschichtig genug wäre, um die verschiedenen, von den unterschiedlichen Fragen mitberührten Aspekte der Chancengleichheit, der Angewiesenheit auf Arbeit, der Generationenbenachteiligung und der ökologischen Rücksichtnahme in ein vernünftiges und überblickbares Verhältnis zu bringen - fast alle Parteien operieren noch mit einem eindimensionalen Gerechtigkeitsbegriff, in dem etwa allein auf Leistung, auf Chancengleichheit oder auf Bedürftigkeit gesetzt wird, anstatt den Schritt zu einem mehrdimensionalen Gerechtigkeitsbegriff zu vollziehen, der für die Zukunft unverzichtbar sein wird. Hier ist noch viel mehr intellektuelle Arbeit zu leisten, als sich das die Chefdenker der verschiedenen Parteien heute ausmalen können.
Interview: Harry Nutt
Monday, September 15, 2003
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